Die Vorschlags- und Bewertungsphase im Bürgerhaushalt Stuttgart neigt sich langsam ihrem Ende zu. Zeit, sich mit dem aktuellen Zustand der Online-Plattform kritisch auseinander zu setzen. Wir möchten uns in diesem Beitrag besonders mit dem grenzwertigen Stil der Moderation und der einfachen Manipulierbarkeit der Bewertungen auseinandersetzen. Besonders da wir große Unterstützer des Konzepts „Bürgerhaushalt“ sind, dürften diese Mängel am aktuell verwendeten System und dem dahinter stehenden Konzept nicht unerwähnt bleiben.

Aktuell befinden sich im System 850 Vorschläge die durch insgesamt 2455 Benutzer eingebracht wurden. Zu berücksichtigen gilt, dass schriftlich eingebrachte Vorschläge durch einen speziellen Benutzer der Stadt eingestellt werden.

Sehr viele Anträge werden allerdings voraussichtlich schon aus formalen Gründen nicht behandelt werden. Dabei handelt es sich häufig um gute Ideen, die aber entweder nichts mit dem Haushalt zu tun haben oder aber nicht in die Zuständigkeit der Stadt fallen. Dieser Sachverhalt verdeutlicht einmal mehr das Bedürfnis der Menschen nach permanenten und wirksamen Mitteln zur politischen Mitwirkung. Der Gemeinderat wäre gut beraten, sinnvolle Vorschläge, für die er zuständig ist, nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Selbst dann wenn sie mit dem Haushalt der Stadt Stuttgart nicht direkt zu tun haben.

Eingebracht wurde aber auch eine Fülle an grenzwertigen Vorschlägen. Gefühlt am häufigsten tauchen etwa Forderungen nach übermäßig harten Strafen für eine Verunreinigung des öffentlichen Raumes auf, auch eine Verpflichtung von „Arbeitslosen“ zur Reinigungsdiensten wird mehrfach gefordert. Die Kommentare zu derartigen Vorschlägen verdeutlichen aber auch, dass diese allem Anschein nach glücklicherweise keine mehrheitsfähigen Forderungen sind.

Bewertungssystem einfach manipulierbar

Viel wesentlicher sind da tatsächliche Schwächen an der Plattform und ihrem Betrieb. Uns ist ein Weg bekannt, wie man ohne viel Aufwand die Bewertung eines Vorschlags manipulieren kann. Trauriger ist, dass es sich um ein relativ simples Problem handelt, dass vermeidbar wäre. Wir haben das Problem beiläufig und ganz ohne aktives Suchen entdeckt. Jeder, dem die Schwachstelle bekannt ist, hat die Möglichkeit, mit wenigen Klicks die Bewertung von Vorschlägen zu seinem Gunsten zu manipulieren.

Am bedenklichsten ist die Tatsache, dass die Schwachstelle mit einfachen Mitteln hätte vermieden werden können. Dieser Umstand verdeutlicht einmal mehr, dass man hier ein halbgares System an den Start gebracht hat. Das bekräftigt uns erneut in unserer Forderung, derartige Systeme schon vor ihrem offiziellen Start öffentlich vorzustellen.

Willkürliche Moderation

Der Stil der Moderation wird von vielen Nutzern als absolut willkürlich beschrieben. Neben einem Zurückhalten bestimmter Kommentare steht da vor allem das nicht nachvollziehbare Editieren von Benutzermeinungen in der Kritik: Meinungsäußerungen werden ohne besondere Kennzeichnung geändert und somit verfälscht. Die Absicht dahinter scheint zu sein, Diskussionen zu entschärfen, z.B. indem man „finde ich schwachsinnig“ in „finde ich nicht so gut“ ändert. Ein derartiger Moderationsstil ohne Kennzeichnung läuft den Umgangsformen im Netz zuwider, und es ist fraglich, inwiefern eine unattributierte Veränderung mit der verwendeten Lizenz (CC-BY-NC) vereinbar ist. Eingriffe durch die Moderation sollten immer gekennzeichnet werden, ein derartig manipulativer Eingriff in Meinungsäußerungen darf nicht erfolgen.

Mindestens ein Vorschlag wurde offenbar aus Eigeninteresse des Softwareanbieters, der dort moderiert, nur deswegen entfernt, weil er alternative Softwarevorschläge zu der eingesetzten Software enhielt. Dies hat bei uns ernste Zweifel an der Neutralität des Anbieters geweckt und unseren Wunsch nach einer Moderation durch Mitarbeiter der Stadt bekräftigt.

Handhabung des Systems

Die Handhabung des „Online-Dialog“ lässt an vielen Stellen völlig zu wünschen übrig. Die Art der Sortierung von noch zu bewertenden Anträgen etwa macht ein strukturiertes Vorgehen praktisch unmöglich. Die Oberfläche ist zwar einfach aufgebaut, hat aber einige gravierende Schwächen, die bei vielen Menschen zu Frust führen.

Auch die möglichen Bewertungen „gut“ und „weniger gut“ sind für viele Menschen nur mit zusätzlicher Erklärung verständlich. Eine Möglichkeit bestimmte Vorschläge zu ignorieren, um sie aus der Liste der noch zu bewertenden Anträge zu entfernen gibt es nicht.

Das System bietet praktisch keinen Schutz gegen mehrfaches Einbringen der gleichen Vorschläge. Beispielsweise wurde dieses Problem in Bugtracking- und Ticketsystemen gut gelöst, indem beim Neuerstellen zuerst der Titel des Vorschlags angegeben werden muss. Anhand des Titels werden dem Anwender zuerst ähnliche, bereits existierende Einträge angezeigt, und er müsste explizit bestätigen, dass sein Vorschlag noch nicht vorhanden ist. Dies würde vor allem die unzähligen ähnlich lautenden Anträge vermeiden und das System somit als ganzes benutzbarer machen.

Halbherziger Schritt in die richtige Richtung

Wir betrachten das ganze als einen ersten Schritt hin zu mehr Mitbestimmung durch die Stuttgarter Bürger. Wir hoffen, dass dieser erste Versuch zur Durchführung eines Bürgerhaushalts dazu dient, das Konzept zu erproben und Skeptiker von der Durchführbarkeit zu überzeugen. Das System kann, trotz aller Schwächen und Probleme, zeigen, dass die aktive Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung zu guten, nachhaltigen und vor allem von breiter Akzeptanz getragenen Entscheidungen führen kann.

Die etablierte Politik sollte sich nicht medienwirksam Sorgen machen, wie man angesichts protestierender Bürger große Projekte durchführen soll, sondern lieber die Zeichen der Zeit erkennen. Die Menschen bei Entscheidungen aktiv mitwirken zu lassen bedeutet schließlich nicht nur zusätzliche Legitimation für ein Vorhaben, sondern es führt die Politik wieder näher an die Menschen heran. Eine zeitgemäße Politik erfordert mehr Transparenz und Mitbestimmungsmöglichkeiten, auch wenn die große Mehrheit der aktuellen Amtsträger das offensichtlich noch nicht einsehen will.

Die Stuttgarter Piraten begrüßen das Projekt dennoch trotz seiner Schwächen, auch wenn wir uns in Fragen der Bürgerbeteiligung mehr Verbindlichkeit wünschen. Derzeit erlaubt die Gemeindeordnung Baden-Württemberg aber nach wie vor keine Bürgerentscheide über Haushaltsmittel. Es wäre erfreulich, wenn die neue Regierung eine entsprechende Änderung der Gemeindeordnung in Angriff nehmen würde.

Update (18. Juli 2011)

Wir möchten in diesem Nachtrag auf einige Rückfragen näher eingehen.

Zu dem genannten Problem mit den Bewertungen haben wir bewusst keine näheren Details veröffentlicht. Die Schwachstelle kann auch ohne Fachwissen problemlos ausgenutzt werden. Die Ursache des Problems dürfte allen Beteiligten hinreichend bekannt sein, dass haben schon unsere Rückfragen auf Veranstaltungen zum Bürgerhaushalt gezeigt. Die volle Konsequenz daraus scheint den Verantwortlichen dagegen nicht bewusst zu sein oder es wird schlicht in Kauf genommen. Ein Vertreter der Betreiberfirma hat auf Anfrage alle Details mitsamt Lösungsvorschlägen von uns erhalten. Unser Angebot auf Veröffentlichung einer schriftlichen Stellungnahme zu dem Sachverhalt in diesem Artikel wurde bislang nicht wahrgenommen.

Wir verweisen nicht umsonst seit langem auf die enormen Probleme, die eine Abstimmung unter Zuhilfenahme elektronischer Systeme mit sich bringt. Derartige Systeme, wie z.B. Wahlmaschinen, können nach wie vor die grundsätzlichen Anforderungen einer geheimen demokratischen Abstimmung nicht erfüllen. Alle wesentlichen Schritte einer Wahl müssen nachweislich öffentlich überprüfbar sein. Darauf hat schon das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu Wahlmaschinen von 2009 verwiesen. Das Wahlgeheimnis muss nachweislich geschützt sein. Die Folge 117 des Chaosradio hat sich etwa eingehend mit der Problematik befasst und hat auch fast vier Jahre nach ihrer Erstausstrahlung nicht an Aktualität verloren. Das Werkzeug zum Bewerten von Vorschlägen erfüllt aktuell nicht einmal die grundlegendsten Anforderungen an eine demokratische Abstimmung.

Wir werden das genaue Problem spätestens nach dem 29. Juli öffentlich machen und im Detail darauf eingehen. Wir möchten nicht durch eine vorzeitige Veröffentlchung von Details zu großflächigem Missbrauch anstiften, da die Schwachstelle immer noch nicht beseitigt wurde.

Siehe auch:

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