Die Stadt Stuttgart hat auf die Kritik der Piraten an der Software des Bürgerhaushaltes reagiert und begonnen, erste Verbesserungen am Bürgerhaushalt umzusetzen. Das ist sehr erfreulich und wir bedanken uns dafür. Dennoch wirft die Stellungnahme der Stadt zu den Vorwürfen der Piraten mehr Fragen auf als sie beantwortet. Christian Thomae, Direktkandidat der Piratenpartei zur Bundestagswahl in Stuttgart I, kommentiert die Stellungnahme der Stadt (Zitate in Anführungszeichen, Hervorhebungen von uns) in einem offenen Brief ausführlich.
„Um teilzunehmen, müssen sich die Bürger mit ihrem Namen und einer gültigen E-Mail-Adresse anmelden. Zusätzlich wird ein einmaliger Login-Namen benötigt. Hier empfehlen wir eine anonyme Teilnahme mit einem „Phantasienamen“. Außerdem müssen sich die Teilnehmer einem Stadtbezirk zuordnen und Ihre Wohnadresse angeben. Damit kann der Missbrauch durch mehrfache Anmeldungen begrenzt werden.“
Das ist falsch. Das verhindert lediglich mehrfache Anmeldungen unter dem gleichen Namen. Mehrfachen Anmeldungen mit erfundenen Klarnamen und etwa per Google Maps ermittelten gültigen Adressen beugt dies nicht vor. Diese Maßnahme ist also vollkommen wirkungslos.
„Ein Abgleich der Nutzerdaten mit Einwohnermeldedaten erfolgt nicht, zumal er auch umgangen werden kann. Die Erfahrung hat gezeigt: Je mehr Daten erhoben werden, desto weniger Personen machen am Bürgerhaushalt mit. Die Abfrage vieler personenbezogener Daten stellt für viele Nutzer eine hohe Hürde dar und schreckt vor der Teilnahme am Bürgerhaushalt ab. Ein Abgleich der Nutzerdaten mit Einwohnermeldedaten verstärkt diesen Effekt. Auch der Datenschutz verbietet das allzu sorglose Sammeln von personenbezogenen Daten.“
Das ist zwar richtig, hat aber nichts mit unserer Kritik zu tun. Wir hatten nicht umsonst vor zwei Jahren vorgeschlagen, diese Problematik über Token-Briefe zu lösen. Diese Methode hätte den Vorteil gehabt, dass der Nutzer praktisch keine persönlichen Daten bei der Anmeldung mehr angeben müsste. Warum die Stadt diesen Vorschlag nicht umgesetzt hat, ist uns ein Rätsel.
Gerne erklären wir erneut, wie ein dem Bürgerhaushalt angemessenes System funktionieren würde:
- Die Stadt nutzt die selben Mechanismen, die bereits für die Einladung zu Kommunal- und OB-Wahlen genutzt werden.
- Für jeden teilnahmeberechtigten Bürger wird hierzu ein individueller Anmelde-Token (Code) generiert.
- Jeder teilnahmeberechtigte Bürger erhält einen persönlichen Brief mit seinem persönlichen Token und weiteren Informationen zum Bürgerhaushalt.
- Es ist absehbar, dass ein derartiger amtlicher Brief durch die Bürger eher ernst genommen wird als ein unpersönlicher Informations-Flyer. Die Briefe haben also aller Voraussicht nach einen besseren Werbeeffekt als die Flyer und vielleicht sogar als die teuren Werbeschaltungen z.B. am Hauptbahnhof.
- Zur Anmeldung beim Bürgerhaushalt ist dann nur eine gültige E-Mailadresse, ein Nickname und ein persönliches Kennwort erforderlich. Um an der Abstimmungsphase teilzunehmen, muss der Benutzer den persönlichen Token aus dem Brief eingeben.
- Dies ist in Hinblick auf den Datenschutz sogar das bessere Verfahren, da hier dem Dienstleister, der den Bürgerhaushalt betreibt, nur die Token-Liste ausgehändigt werden muss und keine Namen, Adressen, etc. von Bürgern im System hinterlegt sind.
- Dieses Verfahren ist extrem kostengünstig und problemlos umsetzbar, da auf vorhandene Methoden (Einladungen zu Wahlen) zurückgegriffen werden kann.
„Durch die Adresseingabe können Plausibilitätsprüfungen vorgenommen werden.“
Falsch. Das lokalisiert vielleicht einige offensichtliche Phantasieadressen, nicht aber formal gültige Adressen mit Phantasienamen oder komplett gültige, aber gefälschte Datensätze.
„Nach der Bewertungsphase wird nach Auffälligkeiten, zum Beispiel bei den Bewertungen gesucht.“
Das funktioniert nicht! Und wie will man da Fehlauffälligkeiten ausschließen?
Wenn z.B. ein Vorschlag so interessant ist, dass er über soziale Netze rasch Verbreitung findet und sich dann Leute anmelden, nur um für diesen eigenen Vorschlag zu stimmen. Das ist zweifellos auffällig, aber keine Unregelmäßigkeit.
Andererseits muss jemand, der seine Vorschläge durch gefälschte Bewertungen „pushen“ möchte kein Statistiker sein, um in diesem System ein Abstimmungsbild zu generieren, das nicht auffällig, also nicht erkennbar ist.
„Nach der Bewertungsphase werden Zugänge stichprobenartig betrachtet, so dass ungefähre Fehlerwerte angegeben werden können.“
Wie wir bereits ausgeführt haben, ist das Erkennen von Fehlern gar nicht hinreichend möglich. Wie will man dann Fehlerwerte daraus generieren? Und welche Auswirkung sollen diese genau haben?
Das klingt für uns eher nach willkürlichem Vorgehen.
„Es werden während der Bewertungsphase keine Zwischenergebnisse gezeigt, so dass nicht erkennbar ist, welche konkurrierenden Vorschläge es gibt. Ein „Herunter-Voten“ anderer Vorschläge ist dadurch nicht sinnvoll möglich.“
Und ob das möglich ist!
Hypothetische Vorgehensweise:
- 50 oder mehr Accounts mit formell korrekten Daten registrieren.
- Mit diesen Accounts die Mehrzahl aller Vorschläge bewerten. Aber nicht alle und auch nicht immer alle „erwünschten“ Vorschläge.
- Die „erwünschten“ Vorschläge mit ca. 75% der Accounts positiv bewerten.
- Alle anderen Vorschläge mit ca. 50 – 75% der Accounts negativ bewerten.
- Auf gute Streuung achten.
Voilà, schon sind die eigenen Vorschläge unter Garantie in den TOP 100.
Bitte erklären Sie uns, wie Sie einen derartigen Missbrauch aktuell unterbinden oder wie Sie diesen erkennen wollen. Wir sind gespannt.
„Darüber hinaus werden die Vorschläge vom Gemeinderat beraten, der somit als Korrektiv wirkt. Außerdem behält er sich vor, alle Vorschläge aufzugreifen, so dass die Bedeutung der Bewertungen relativiert wird. Insgesamt handelt es sich beim Bürgerhaushalt um ein beratendes Verfahren und nicht um ein Plebiszit.“
Ja? Da ist eine lange Phase nur für Abstimmungen eingeplant. Die Menschen verbringen viele Stunden damit, Vorschläge zu lesen und zu bewerten. Dann kommunizieren Sie auch bitte, dass das eigentlich im Prinzip hinfällig ist. Das wäre aufrichtiger.
„Darauf, den Teilnehmenden per Brief die Nutzerkennung zuzusenden, wurde bewusst verzichtet. Dies würde die Nutzerzahlen senken und wäre sehr aufwändig. Aufwand und Nutzen stünden in keinem Verhältnis, abgesehen von der mangelnden Nutzerfreundlichkeit.“
Wie bitte? Das genaue Gegenteil wäre unserer Meinung nach der Fall! Die Stadt verfügt über alle hierfür notwendigen technischen Mittel. Das würde nicht anders ablaufen als die Einladung zu Kommunal- oder OB-Wahlen.
Ist man ernsthaft der Meinung, dass ein unpersönlicher Flyer und ein wenig sonstige Werbung mehr Rezeption findet als ein amtlicher Brief? Spannende These.
Wir würden uns über eine detaillierte Begründung für diese Behauptungen freuen.
„Aufgrund der Erfahrungen beim ersten Bürgerhaushaltsverfahren liegen keine Erkenntnisse massiver Manipulationen vor.“
Natürlich liegen keine Erkenntnisse vor, weil derartige Manipulationen aktuell nicht erkannt werden können.
„Der Online-Dialog orientiert sich in erster Linie an Menschen, die nur selten das Internet nutzen. Die Plattform muss daher einfach bedienbar sein. Aus diesem Grund wurde der Funktionsumfang der Plattform bewusst begrenzt gehalten.“
Während wir den aktuellen Bürgerhaushalt nutzen, denken wir uns jedes Mal, wie einfach vieles sein könnte und wie viel Zeit wir uns erspart hätten, wenn das System etwas komfortabler umgesetzt wäre. Die Google-Suche ist auch viel komplexer als z.B. die Bing-Suche oder die Yahoo-Suche. Trotzdem ist sie viel einfacher und intuitiver nutzbar und konzentriert sich jeweils auf das Wesentliche, was den Erfolg des Dienstes wesentlich mit ausmacht.
Man darf nicht mangelhaften Funktionsumfang mit „Einfachheit“ gleichsetzen. Das ist ein Grundprinzip des „User Interface Design“.
„Um Ähnliche Vorschläge zu vermeiden stehen verschiedene Funktionen auf der Plattform zur Verfügung. So können Funktionen genutzt werden, die es jedem Nutzer ermöglichen eigene Vorschläge zu überarbeiten oder Kontakt mit den Autoren anderer Vorschläge aufzunehmen um sich auf einen gemeinsamen Vorschlag zu einigen.“
Falsch, die Plattform bietet hierfür nahezu keine Funktionen. Das muss alles mühsam händisch gemacht werden. Die jetzt neu eingeführte Box ist nett und praktisch, aber maximal ein „Tropfen auf den heißen Stein“.
Dabei bieten Werkzeuge wie „Bugzilla“ wunderbar einfache Lösungen für diese Problematik.
Man stelle sich folgendes Vorgehen vor:
- „Neuer Vorschlag“ angeklickt
- „Bitte geben Sie hier einige Stichworte an, worum sich Ihr Vorschlag dreht“
- Suchergebnisse mit den passendsten Vorschlägen + Zusammenfassung
- Die Möglichkeit, einen Ergänzungsvorschlag zu einem bestehenden zu machen (wenn etwas nicht weit genug geht)
- Am Ende die Auswahl „meine Idee ist nicht dabei, neuen Vorschlag anlegen“
Das eliminiert in Bugtracking-Systemen erfahrungsgemäß Doubletten meist vollständig. Beim Bürgerhaushalt wäre die Quote wohl etwas geringer. Es würde sich dennoch lohnen. Darum haben wir das vor zwei Jahren auch schon so vorgeschlagen.
„Auch wurde das Vorschlagsformular für die Nutzer dahingehend erweitert, dass während der Eingabe des Titels eines neuen Vorschlags unmittelbar eine Suche nach ähnlichen Vorschlägen vorgenommen wird. Sofern der Suchbegriff in anderen Vorschlägen auftritt, erscheinen diese als Liste neben dem Vorschlagsformular mit Überschrift und Link zum entsprechenden Vorschlag.“
Aber wie wir sehen, reagiert man doch auf unsere Vorschläge. Wir könnten schwören, dass das beim Start am Montag noch nicht integriert war, oder täuschen wir uns da? 🙂 Es ist scheinbar doch möglich, so etwas auch kurzfristig zu integrieren.
Und: Ist es wirklich sinnvoll, ähnliche Vorschläge rechts in einer Box anzuzeigen? Erstens sieht man nur die Titel der Vorschläge, zweitens geht das im Wahrnehmungsfluss der Bedienoberfläche ganz klar unter. Wie gesagt, hier sollte lieber auf ein vollständiges Verfahren gesetzt werden, wie es sich bei Bugtracking-Systemen bewährt hat.
Trotz allem freuen wir uns, dass jetzt Bewegung in die Sache kommt und man sich mit unseren Kritikpunkten auseinandersetzt. Vielen Dank für Ihre Antworten.
Pressemitteilung der Piratenpartei Stuttgart.
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