Die 40-Stunden-Woche hat schon lange ausgedient. Während für Beschäftigte der IG-Metall-Unternehmen eine 35-Stunden-Woche bereits Normalität ist, kehren auch in anderen Branchen immer mehr Menschen der 40-Stunden-Woche den Rücken und reduzieren ihre Arbeitsstunden. In Experimenten wurde längst bewiesen, dass reduzierte Arbeitszeit die Produktivität erhöht und Krankentage dadurch sinken. Win-Win für alle. Gleichzeitig verändert der digitale Wandel unsere Arbeitswelt. Die 40-Stunden-Woche ist überholt.

Der Hintergrund

Michael Kretschmer, CDU-Ministerpräsident in Sachsen und stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU, fordert eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche. Dies, so Kretschmer, sei der Weg aus der Krise mit Wachstum und Vollbeschäftigung.

Weiter weg von der Lebensrealität abhängig Beschäftigter kann ein Politiker in Deutschland kaum mehr sein. Bei der CDU verwundert das aber auch nicht. Schon 1984 bezeichnete ein CDU-Politiker, kein Geringerer als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, die 35-Stunden-Woche als “absurd, dumm und töricht”. Der damalige Streik in der Metallindustrie führte zumindest in den West-Bundesländern dazu, dass seit 1995 die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie weitestgehend normal ist.

Die Gesellschaft wandelt sich.

Heute wie damals steht Deutschland vor einem Umbruch der Arbeitswelt. War es in den 80er-Jahren die stetige Ausweitung der Automatisierung und Einführung von Computersystemen, so befindet sich die deutsche Wirtschaft mitten in einem Transformationsprozess. Die weitere Digitalisierung aller Arbeitsbereiche und ein rasanter Umbruch der Industrie im Sinne des Klimawandels befeuert einen rasanten Wandel der Gesellschaft.

Flankiert durch den demografischen Wandel stehen wir vor enormen Herausforderungen, die unsere Gesellschaft zu bewältigen hat. Mehr Arbeit für einige wird diesen Herausforderungen nicht gerecht werden. Jungen Menschen fehlt eine langfristige Sicherheit für ihre Lebensplanung. Klimawandel, Kriege und geopolitische Entwicklungen erzeugen ein Gefühl der Unsicherheit. Wozu sollen sich junge Menschen, Arbeitende, ein Arbeitsleben lang hinter einen Schreibtisch verstecken oder in immer spärlicher besetzten Produktionshallen Maschinen bedienen, wenn noch nicht einmal sicher ist, wann sie in das Rentenalter kommen und ob die Rente eines 40- oder 50-jährigen Arbeitslebens überhaupt ausreicht für einen würdevollen Lebensabend.

Gleichzeitig ist die Abschaffung von Teilzeit gerade für junge Familien nicht möglich. Insbesondere Mütter kehren lange nicht in die Vollzeitbeschäftigung zurück, um die Kinderbetreuung sicherzustellen. Dass sich die meisten Familien keine Tageseltern leisten können, scheint wohl für viele CDU-Politiker abseits der Realität.

Und ist Arbeit überhaupt noch das, was sie vor 30-40 Jahren einmal war? Ein Ableisten von Stunden?

Die Arbeitswelt verändert sich.

Teilzeitmodelle und neue Konzepte wie die 4-Tage-Woche ermöglichen eine sehr viel bessere Vereinbarkeit von Familie, Partnerschaften und Beruf. Gleichzeitig geht es den Menschen dadurch gesundheitlich viel besser. Weniger Stress, Krankenstände und mehr Produktivität sind direkte Ergebnisse dieser Entwicklung, da, wo sie ausprobiert wird. Und ganz nebenbei ermöglicht eine neue Arbeitswelt auch noch in hohem Maße die Gleichstellung von allen Menschen unabhängig ihres Geschlechts.

Gerade Herrn Kretschmer, dem Ministerpräsidenten eines ostdeutschen Bundeslandes, sollte dies bewusst sein.

Vergessen wir also lieber diese Relikte aus dem vergangenen Jahrhundert und konzentrieren uns darauf, die anstehenden Herausforderungen zu meistern und eine lebenswerte Gesellschaft zu gestalten.

Dies gelingt uns nur mit einer freien Gesellschaft, in der sich Menschen entfalten können und die Möglichkeit haben, ihr Leben den vielfältigen Gegebenheiten und Notwendigkeiten anzupassen. Eine Gesellschaft, in der Arbeit sicher einen wichtigen Teil darstellt, aber nicht das Leben aller diktiert. Nur so ist ein Leben in Würde für alle möglich. Nur so gelingt echte Teilhabe für alle Menschen.

Zur Person:
Borys Sobieski blickt mit fast 46 Jahren auf ein über 25-jähriges Arbeitsleben zurück. Als Angestellter, aber auch Freiberufler in der IT hat er viele Bereiche der deutschen Wirtschaft kennenlernen dürfen. Aktuell begleitet er als Administrator, aber auch Betriebsratsvorsitzender die digitale Transformation bei einem mittelständischen Sondermaschinenbauer im Schwäbischen. Überdies ist er Vorsitzender der Piratenpartei Baden-Württemberg und Generalsekretär der Piratenpartei Deutschland.